Zur Geschichte der Familien Arnstein und Wallach
Auch heute noch tauchen bei Haushaltsauflösungen oder Entrümpelungsaktionen im ehemaligen Oberlahnkreis gelegentlich einfache hölzerne Kleiderbügel auf, die die Aufschrift „S. Arnstein Weilburg a. Lahn“ tragen. Sie erinnern an das Textilgeschäft Arnstein in Weilburg und dessen Gründer Siegmund Arnstein und dokumentieren die enge Verbindung Weilburgs mit seinem Umland.
Weilburg war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Einkaufsstadt für den ländlich strukturierten Oberlahnkreises, zum Einkaufen fuhr man oder ging man nach Weilburg. Der Einzugsbereich des Geschäfts Arnstein erstreckte sich, wie die Kleiderbügelfunde beweisen, fast über den gesamten Oberlahnkreis. Viele Jahre war das Geschäft Arnstein in der Niedergasse eine gute und bekannte Adresse mit zahlreicher und fester Kundschaft, bevor es Ende 1938 seinen Geschäftsbetrieb wegen der erzwungenen „Arisierung“ einstellen musste.
Siegmund Arnstein wurde 1870 in Werdorf (früher Kreis Wetzlar) geboren und heiratete im November 1895 Rosa Kleeblatt, die Eheschließung fand in Seligenstadt (Kreis Offenbach) statt, dem Geburtsort der Ehefrau. Lt. Heiratsurkunde hatten Siegmund und Rosa zum Zeitpunkt der Eheschließung ihren Wohnsitz bereits in Weilburg. Hier wurden dem Paar zwei Töchter geboren: Frieda (1896) und Klara Cäcilie, genannt Cilla, (1899).
Das genaue Gründungsjahr der Firma S. Arnstein ist unbekannt, vermutlich wurde das Geschäft um die Mitte der neunziger Jahre gegründet und vor dem Ersten Weltkrieg zeitweilig auch unter dem Namen der Ehefrau Rosa geführt. Der Kaufmann Arnstein war in Weilburg bald bekannt und angesehen, denn 1899 war er einer der drei Schützenkönige bei der Weilburger Kirmes (I. Scheibe). Und im Jubiläumsjahr 1913 der Weilburger Bürgergarde waren der Viehhändler Julius Bauer und Siegmund Arnstein die einzigen jüdischen Gardisten.
Schon bald nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einer bedeutsamen Veränderung im Geschäft Arnstein: 1920 heiratete Adolf Wallach aus Breitenbach (Nordhessen, Kreis Ziegenhain) Frieda Arnstein und trat als Teilhaber in die Firma Arnstein ein. 1921 wurde den Eheleuten Wallach die Tochter Margot geboren und 1924 die Tochter Irene.
Unter der gemeinsamen Leitung von Siegmund Arnstein und seinem Schwiegersohn Adolf Wallach machte sich die Firma S. Arnstein in den zwanziger Jahren mehr und mehr einen Namen und entwickelte sich zu einem florierenden Geschäft.
Mit dem Jahr 1933 setzten einschneidende wirtschaftliche Veränderungen in Weilburg ein: Die Lage der jüdischen Geschäfte begann sich zusehends zu verschlechtern, sie wurden in immer stärkerem Maße von den Käufern gemieden. Die zahlreichen Aufrufe zum Boykott jüdischer Geschäfte im Weilburger Tageblatt, dem amtlichen Mitteilungsblatt des Oberlahnkreises und der Stadt Weilburg, zeigten Wirkung. Da die meisten Geschäfte ohnehin über größere finanzielle Reserven nicht verfügten, blieben die Folgen nicht aus: Einige Geschäfte gingen in Konkurs, andere schlossen von selbst.
Siegmund Arnstein verstarb am 2. April 1936, seine Beisetzung sollte die letzte auf dem jüdischen Friedhof Weilburg sein. Hierzu waren viele Juden zusammengekommen, aus Weilburg und von außerhalb. Ob auch Personen aus Arnsteins früherem großen Weilburger Freundes- und Bekanntenkreis der Beisetzung beiwohnten, ist unbekannt, erscheint aber fraglich. Nach der Beerdigung wurde Kaffee im ersten Stockwerk gereicht, wo sonst die Damenbekleidung verkauft wurde. Das Stockwerk war hierfür geräumt worden.
Anfang 1938 gab es nur noch zwei jüdische Geschäfte in Weilburg: das Lederwarengeschäft Falk (Niedergasse 6) und das Geschäft Arnstein/Wallach. Während die Firma Falk ihren Geschäftsbetrieb im Juli 1938 beendete, nahm die Firma Arnstein/Wallach weiterhin eine bemerkenswerte Sonderstellung ein. Eine ehemalige Mitarbeiterin, die von 1925 bis 1936 als Verkäuferin im Geschäft Arnstein/Wallach gearbeitet hatte, berichtete vor Jahrzehnten: Auch nach 1933 habe es Kundschaft im Geschäft Arnstein/Wallach gegeben, kaum noch Weilburger, aber weiterhin Kunden aus den umliegenden Dörfern. Die hätten sich um Boykottaufrufe wenig gekümmert und seien nach wie vor zu Arnsteins einkaufen gegangen. Die Kunden hätten oft das Geschäftshaus durch die Tür auf der rückwärtigen Lahnseite betreten, um nicht in der Niedergasse gesehen zu werden. Auf der anderen Seite der Niedergasse, den Geschäften Falk und Arnstein gegenüber, lag das Geschäft eines stadtbekannten Nazis, der Kunden von Falks und Arnsteins oft zu fotografieren pflegte, dies war allgemein bekannt. Die ehemalige Verkäuferin erinnerte sich auch daran, dass sie bis zum Ende ihrer Tätigkeit ihr monatliches Gehalt regelmäßig bekommen habe, zuletzt 100 RM.
Diese Darstellung wird bestätigt durch verschiedene Artikel im Weilburger Tageblatt (!), die der Kreispropagandaleiter der NSDAP verfasste und in denen sich bemerkenswerte Feststellungen zum tatsächlichen Verhalten der Bevölkerung finden. Zum Beispiel in dem Artikel „Für die, die es angeht“ vom Mai 1935. Der NSDAP-Funktionär forderte darin nicht nur zum Boykott jüdischer Geschäfte auf, sondern kritisierte scharf, dass es immer noch Männer und Frauen gebe, die in Geschäften „der Juden und der Judenfreunde“ einkaufen. Darunter auch „gewisse Staatsbeamte“. Es scheine sich doch noch nicht überall herumgesprochen zu haben, „dass die Juden die Feinde des neuen Deutschlands sind“. Nicht nur Bewohner „unserer Stadt handeln so gedankenlos, sondern auch große Teile der Landbevölkerung“.
Vor diesem Hintergrund wird eher verständlich, warum das Geschäft Arnstein/Wallach seinen Verkauf erst zum Ende des Jahres 1938 einstellte, und zwar wegen der erzwungenen „Arisierung“.
Das Novemberpogrom 1938 brach in Weilburg am 10. November über die kleine Gruppe von Juden herein, die dem organisierten Überfall hilflos ausgeliefert waren. Am Nachmittag dieses Tages verwüstete eine Gruppe von 5 – 6 Männern fünf Wohnungen und ein Geschäft. Besonders die Niedergasse wurde heimgesucht und bot ein Bild der Verwüstung: Die Wohnungseinrichtung der Familie Falk (Niedergasse 6) wurde zertrümmert, die Täter stürzten Teile des Mobiliars in die Niedergasse und auf den rückwärtigen Teil des Anwesens. Max Falk wurde mit einem Tintenlöscher aus Marmor zu Boden geschlagen.
Die Schaufensterscheiben des Geschäfts Arnstein/Wallach waren zertrümmert worden. Glassplitter, Schaufenster- und Ladeninhalt sowie Teile der Wohnungseinrichtung bedeckten die Straße. Auch auf dem rückwärtigen Hof lagen verstreut aufgeschnittene Betten, Porzellan und Möbelstücke. Die Täter hatten sich den Zutritt zum Hause verschafft, indem sie mit einer Axt die rückwärtige Haustür eingeschlagen hatten. Adolf Wallach wurde ein Kronleuchter auf den Kopf geschlagen. Er verlor zeitweilig das Bewusstsein und erlitt eine schwere Kopfverletzung, an deren Spätfolgen er knapp zwei Jahre später (1940) verstarb. (Der glaubhaften Aussage einer Zeitzeugin im Jahre 2016 zufolge wurde auch die Wohnung der Familie Wallach im Haus Bahnhofstraße 15 vollständig verwüstet.)
Die Nachricht von den Geschehnissen verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Weilburg, es fanden sich schnell Schaulustige ein. Und es entwickelte sich eine beklemmende Szene, die das Landgericht Limburg 1946 in einem Urteil wie folgt beschrieb: In der Niedergasse habe sich eine Menschenmenge „öffentlich zusammengerottet“, diese habe mit „vereinten Kräften“ Gewalttätigkeiten begangen. So wurden Pflastersteine aus dem Boden der Niedergasse herausgerissen und gegen die Häuser Arnstein und Falk geschleudert.
Am 12. November 1938 wurde Adolf Wallach in Weilburg von Weilburger Polizeibeamten verhaftet und dann in einem Mietwagen der Firma Schatz, Weilburg, nach Frankfurt überführt und dort der Gestapo übergeben. Auch Max Falk wurde am gleichen Tag in Weilburg verhaftet und nach Frankfurt überführt, vermutlich im gleichen Wagen wie Wallach. Von Frankfurt wurden sie beide in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht, sie blieben Häftlinge in Buchenwald bis zum 14. Dezember 1938.
Die Kosten für den Transport nach Frankfurt betrugen 26,80 RM und mussten von Frau Wallach beglichen werden. Auch die Beseitigung der auf der Niedergasse verstreuten Glasscherben musste Frau Wallach bezahlen. Das beauftragte Fuhrunternehmen stellte für eine Fuhre Glasscherben 4 RM in Rechnung.
Nach dem Novemberpogrom wurde allen deutschen Juden eine zusätzliche „Sühneleistung“ in der Gesamthöhe von einer Milliarde RM auferlegt. Jeder abgabepflichtige Jude hatte als „Sühneleistung“ 25 Prozent seines angemeldeten Vermögens abzuführen. Sechs Weilburger Juden wurden zu dieser „Judenvermögensabgabe“ herangezogen und entrichteten insgesamt 47500 RM. Davon entfielen auf Rosa Arnstein 21250 RM und auf Adolf Wallach 11000 RM.
Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung erließ am 15. November 1938 einen Erlass, nach dem Juden der Besuch „deutscher Schulen“ nicht mehr gestattet sei. Alle jüdischen Schüler und Schülerinnen, die zurzeit eine deutsche Schule besuchten, seien „sofort zu entlassen“. Von diesem Erlass betroffen war Irene Wallach, zweite Tochter von Adolf und Frieda Wallach. Sie war im November 1938 Schülerin der 8.Klasse der Volksschule Weilburg. Entsprechend dem Verbot des Reichsministers besuchte Irene Wallach ab Mitte November 1938 die Volksschule Weilburg nicht mehr, sie war entlassen, ihre Schullaufbahn war beendet.
Wallachs Gesundheitszustand nach seiner Entlassung aus Buchenwald war sehr schlecht. Es grenzte an ein Wunder, dass er mit seiner schweren Kopfverletzung die Haftzeit in Buchenwald überhaupt überstanden hatte. Als schwerkranker Mann begab er sich anschließend in ärztliche Behandlung. Für die Begleichung seiner Arzt- und Krankenhausrechnungen musste er ca. 2000 RM aufbringen.
In einer Akte der Zollfahndungsstelle Frankfurt findet sich zum 7. September1938 der Vermerk, dass Wallach mit seiner Familie auswandern wolle. Die Zollfahndungsstelle erließ deshalb am 7. September 1938 eine so genannte „Sicherungsanordnung“ gegen Wallach. Danach durfte Wallach über seine Bankkonten nicht mehr frei verfügen, sondern jede Überweisung bedurfte der vorherigen Genehmigung durch die Devisenstelle Frankfurt.
In der Familie Wallach war wohl schon seit Längerem über Auswanderungspläne gesprochen worden: Bereits 1937 wanderte die 16-jährige Tochter Margot in die USA aus und nahm ihren Wohnsitz in Chicago, nähere Einzelheiten zu dieser Auswanderung sind nicht bekannt. Die restliche Familie sollte offensichtlich alsbald folgen. Wegen des Novemberpogroms 1938 verstärkte die Familie ihre Bemühungen: Am 9. Dezember 1938 – Adolf Wallach war noch Häftling in Buchenwald (!) – beantragte Frieda Wallach die Freigabe von 2000 RM für den Kauf von drei Schiffskarten nach den USA, dem Antrag wurde stattgegeben. Die Auswanderung kam im Jahr 1939 dennoch nicht zustande, die Gründe hierfür sind unbekannt. Die Gestapo Frankfurt verlängerte die Frist für die Auswanderung noch einmal bis zum 1. März 1940, doch auch dieser Termin verstrich, ohne dass es zu einer Auswanderung gekommen wäre.
So zog die Familie Wallach im März 1940 zusammen mit den übrigen Weilburger Juden nach Frankfurt um, sie wurde in das Haus Bäckerweg 60 einquartiert. Hier verstarb Adolf Wallach am 2. Juni 1940 an den Spätfolgen seiner Kopfverletzung vom November 1938, er wurde auf dem jüdischen Friedhof Frankfurt beerdigt.
Rosa Arnstein, deren Bankkonten ebenfalls der Kontrolle durch die Devisenstelle Frankfurt unterlagen, zog im Oktober 1939 von Weilburg nach Bad Homburg um und von dort im Dezember 1939 nach Mainz.
Frieda Wallach, ihre Tochter Irene und ihre Mutter Rosa Arnstein wurden Opfer der Judenvernichtung, im Jahr 1942 wurden sie deportiert:
Frieda und Irene Wallach am 23. Juni 1942 „nach dem Osten“, Rosa Arnstein am 27. September 1942 nach Theresienstadt.